Cage (Arbeitsgruppe auf dem Symposion der AIPPh zum Thema Grundlagen der europäisch-amerikanischen Wertegemeinschaft in Philosophie und Literatur 1996 in Wildbad-Kreuth) In dem Lehrbuch Texte, Themen und Strukturen für den Deutschunterricht der 11. Klassen wird empfohlen, mit den Schülern Übungen im kreativen Schreiben nach dem diesbezüglichen Arbeitsbuch von Gerd Brenner durchzuführen. Hier findet sich u.a. folgende Arbeitsanleitung: Es soll ein Gedicht entstehen, das nur einen einzigen Vokal enthält. Zu diesem Zweck wählst du dir zuerst einen Vokal. Sodann stellst du eine Liste von Wörtern zusammen, die nur diesen Vokal enthalten. Schließlich fügst du die Wörter, die dir dafür geeignet erscheinen, zu einem Gedicht zusammen. Bevor wir weiter in unser Thema einsteigen, möchte ich Sie zunächst
bitten, nach dieser Arbeitsanleitung zu verfahren. Bei der Arbeitsanleitung, nach der wir eben vorgegangen sind, handelt es sich um eine der Methoden, die in der sogenannten Konkreten Dichtung angewendet werden. Dazu ein Beispiel ihres Hauptvertreters, des Österreichers Ernst Jandl: loch loch In seiner Erläuterung des Begriffs Konkrete Dichtung
formuliert Jandl die Absichten dieser Kunstform: Diese moderne Weltdichtung ist konkret, indem sie Möglichkeiten innerhalb von Sprache verwirklicht und Gegenstände aus Sprache erzeugt, statt illusionistisch und didaktisch abstrakt Aussagen zu machen über Gegenstände, die außerhalb von Sprache angenommen werden. Diese Dichtung ist nicht messbar an den Verbindlichkeiten einer zur praktischen Mitteilung dienenden Sprache. Sie ist autonom, zu messen nur an ihren eigenen Beispielen. Sie ist eine Dichtung, die geschlossene Systeme von Beziehungen herstellt. Kontakt mit solcher Dichtung ist ein Vorbeigehen an ihr wie an Bildern, an ihrer Oberfläche streifend. Sie kennt keine Tiefe und täuscht sie auch nicht vor; sie täuscht nichts vor, sie macht klar. Sie macht Oberfläche klar. Wie Bilder ist sie einzig Fläche, Oberfläche. Vom Kontakt mit ihr bleibt nichts als Stücke, Erinnerung von Worten, Folgen, Flächen. Es ist eine Dichtung des puren Bewusstseins, der unbesetzten Intelligenz als Voraussetzung für die Aufnahme dieser Dichtung und als Effekt des Kontakts mit ihr. So, wie absolute Musik, um wirklich vernommen zu werden, dieser Leere des Denkraums bedarf, ihn durchziehend auf die Zeit ihrer Dauer und ihn noch einige Zeit nach ihrem Verklingen immun haltend gegen die herandringenden Sensationen. Es zeigt sich, dass hier völlig andere Absichten verfolgt werden als in derjenigen Dichtung, die die meisten von uns mit dem Begriff Sinnlosigkeit oder Un-sinn assoziieren, nämlich dem absurden Theater. War es dort das Hauptanliegen der Autoren, durch ihre Stücke eine in Absurdität zerfallene Welt zu spiegeln, so wird gerade diese Spiegelfunktion von der Konkreten Dichtung als illusionistisch und didaktisch abstrakt abgelehnt. Diese Dichtung will autonom sein, sie will sich nicht messen lassen an der außersprachlichen Welt oder an den Verbindlichkeiten einer zu praktischen Mitteilungen dienenden Sprache. Jandl zieht vielmehr selbst den Vergleich zur absoluten Musik, die, wie er meint, ebenso wie die Konkrete Dichtung ein reines Bewusstsein, eine unbesetzte Intelligenz voraussetzt und eine Leere des Denkraums schafft, die denjenigen, der sich mit ihr beschäftigt, noch einige Zeit nach ihrem Verklingen immun macht gegen die herandringende Welt. Nicht Betroffenheit durch die Welt also, sondern Distanz, ja Befreiung von der Welt will diese Dichtung bewirken. Dazu bedient sie sich u.a. des Mittels von Wortschöpfungen, -verknüpfungen und -fragmentierungen, die im Vergleich zur praktischen Funktion der Sprache unsinnig wirken. Die so erfolgte Leere des Denkens ist also keine negative, sondern eine positive, die frei macht für neue, sich aus der Unsinnigkeit ergebende Möglichkeiten. Hier lassen sich Beziehungen zu der zen-buddhistischen Praxis des Koan
erkennen. Koans sind sorgfältig konstruierte unsinnige Rätsel,
z.B.: Du kannst das Geräusch von zwei klatschenden Händen
erzeugen. Wie ist jetzt das Geräusch einer Hand? Solche Koans
sollen den Zen-Schüler die Grenzen des logischen Denkens spüren
lassen. Sie sollen den Denkprozess anhalten, um den Schüler für
nichtverbale Erfahrungen empfänglich zu machen. Es gibt einen guten Grund, der hinter Pulverisierung und Fragmentierung steht, wenn man z.B. Silben in einem Gesangstext verwendet: Wir nehmen die Dinge auseinander, damit sie Buddha werden. Cage erarbeitete sich die Zen-Lehre seit 1945 und machte dadurch eine persönliche Wandlung durch. War er nach dem Zeugnis eines Freundes vorher rechthaberisch und streitsüchtig gewesen, so zeigte er sich nach seinem Zen-Studium tolerant anderen Meinungen gegenüber. Er nahm aufrichtig Anteil an den Anliegen seiner Gesprächspartner und konnte seine eigene Person ganz zurückstellen. Wenn er gefragt wurde, erklärte er bereitwillig seine Position, aber er ließ immer auch andere Meinungen gelten und lehnte es ab zu streiten. Der Zen-Buddhismus lehrt, dass nur die zufällige Koinzidenz der
Ereignisse in Raum und Zeit den Meditierenden die gegenwärtige Durchdringung
aller Erscheinungen im Herzen des Universums enthüllt. Entsprechend
spielt in Cages Schaffen der Zufall eine zentrale Rolle. Zur Festlegung
der Form seiner Kunstwerke bediente er sich des chinesischen Orakelbuches
Wie Jandl arbeitet auch Cage in seinen Gedichten mit sprachverfremdenden Formvorschriften, die die herkömmlichen grammatischen und semantischen Strukturen der Sprache als Bedeutungsträger aufbrechen. Als Gedichtform bevorzugt er sogenannte Mesosticks, das sind akrostichonartige Kurzformen, bei denen der bearbeitete Name durch Großbuchstaben von oben nach unten in der Mitte der quergelesenen Wörter erscheint. Zur Konstruktion stellt Cage die Regel auf, dass a given letter capitalized does not occur between it and the preceding capitalized letter. Wegen seiner Verehrung für James Joyce und für dessen Roman Finnegans Wake, in dem ja viele Elemente der modernen Zufallsdichtung schon angelegt sind, widmete Cage diesem irischen Dichter mehrere Mesosticks, für die er Finnegans Wake als Materialsteinbruch benutzte. Hier ein Beispiel für ein Mesostick an Joyce: Just a whisk Die angewendete Regel soll Raum für den Zufall lassen, so dass für
den Schaffenden selbst das Ergebnis der Regelanwendung eine Überraschung
ist. Es gibt viele Berichte über die Begeisterung, die Cage über
die Lösungen empfand, die der Zufall ihm beschert hatte. Dieser Gedanke wurde in der Philosophie schon zu Beginn unsres Jahrhunderts
von Henri Bergson ausgearbeitet, der die These aufstellte, dass es keine
Unordnung gebe. Um seinen Gedanken zu verdeutlichen, benutzt Bergson das
Beispiel eines Zimmers. Räume ich dieses auf, so herrscht in dem
Zimmer gewollte Ordnung; lasse ich aber alles so liegen, wie es durch
verschiedene Ursachen bewirkt wurde, so sagen wir: Das Zimmer ist unordentlich,
weil wir davon ausgehen, dass nur die gewollte Ordnung Ordnung sei. In
Wirklichkeit aber herrscht in dem Zimmer trotzdem eine Ordnung, nämlich
die automatische, durch den Zufall bewirkte. Es gibt also keine Unordnung.
Als Pollocks Bilder einmal von einem Kritiker als chaotisch bezeichnet
wurden, wurde er sehr ungehalten und wies den Begriff Chaos in diesem
Zusammenhang nachträglich zurück. Seine Bilder seien Natur,
nicht Chaos. Zimmerli betont, dass der Schlüsselbegriff der neuen Naturauffassung die Selbstorganisation fern vom Gleichgewicht ist. Gerade im äußersten Chaos entspringen neue Ordnungen, wie die Forschungen von Prigogine und die Chaosforschung gezeigt haben. Es ergab sich, dass die Natur die wunderbare Fähigkeit besitzt, durch einen kausal nicht zu fassenden Umschlag einen scheinbar notwendigen Zerfall gleichsam zu überspringen. Dadurch, dass große Bereiche der modernen Kunst, wie oben gezeigt,
de facto den romantischen Ordnungsbegriff Bollnows vertreten, nähern
sie sich zugleich auch dem Naturbegriff, wie ihn Zimmerli darstellt. Und
da dieser Naturbegriff als erstes davon ausgeht, dass die Trennung zwischen
Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Natur nicht mehr aufrecht erhalten
werden kann, sind auch Kunst und Natur nicht mehr zu trennen. Der schöpferische
Wille des Menschen wird der Natur unter- bzw. eingeordnet, der Mensch
wird Teil der Natur, und die Kunst wird selbst Natur. So sind nun auch
die übrigen vier Charakteristika, die Zimmerli für die Natur
in neueren Veröffentlichungen feststellt, gleichermaßen auf
die neue Kunst anwendbar: Kommt man nun noch einmal auf den Gegensatz zur absurden Dichtung zurück, so wird hier der Unterschied noch grundlegender fassbar: Die absurde Dichtung beklagt von der menschlichen Vernunft her den Verlust des Sinns der Welt, sie sieht das Chaos als destruktiv und stellt diese Sichtweise in ihrer Kunst spiegelbildlich dar. Der neue Stellenwert des Unsinns in Kunst und Dichtung besteht dagegen in einer Umwertung des Chaotischen als positive Keimzelle für neue, ungeahnte Möglichkeiten im Vertrauen auf die selbstorganisatorischen Fähigkeiten der Natur. |